Da ja die schönste aller gruseligen Jahreszeiten ist, habe ich hier eine kleine Gruselgeschichte für euch. Der Anstoß kam aus dem Nornennetz: Maximal 10.000 Zeichen, eine Szene, ausreichend Grusel. Die anderen Beiträge findet ihr hier. Ich hoffe, euch schaudert angemessen!
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Ein dumpfer Laut dröhnte durch den leeren Gang, als ob die Wellen einen toten Körper gegen die Außenhülle der Charybdis drückten. Giuseppe zuckte zusammen. Auch nach drei Monaten auf See hatte er sich nicht an die Geräusche gewöhnt, die man durch den metallenen Rumpf hörte, oder an die merkwürdig schlingernden Bewegungen des Schiffs. Besonders in der Nacht wirkte es, als lebten garstige Wesen in den Wänden. Egal, wo man sich befand, man hörte sogar die kleinste Bewegung der Crewmitglieder oder die Schreie der Fracht. Er schüttelte sich, um die verkrampften Schultern zu lockern. Dann sammelte er weiter die Rettungswesten auf, die von ihren Trägern beim Verlassen des Schiffs in der Eile achtlos verstreut worden waren.
Heute Nacht fuhren sie nicht hinaus, um die Schlauchboote abzufangen. Sie waren auf dem Weg ins Dock, denn die Charybdis brauchte dringend ein paar Reparaturen. Vor allem die Motorleistung musste unbedingt optimiert werden. Ahmed schimpfte seit Tagen, von ihm würden Wunder erwartet, mit nichts als einer verbeulten Ölkanne und einem schmierigen Mutternschlüssel. Und wenn dann eines der Militärschiffe, die seit Kurzem auf dem Mittelmeer patrouillierten, auftauche, lägen alle betend auf den Knien.
Also, keine Treibguttour. Giuseppe würde sich nicht beklagen. Die Arbeit auf der Charybdis war härter, als erwartet. Die Handreichungen für den Kapitän, der konstant italienische Schlager trällerte, die Aufgaben an Bord – und wenn sie dann auf ein Boot stießen … Giuseppe saß ganz vorne im Beiboot, um die Fracht zu begrüßen – weil er so gut Englisch sprach, hatte Amalia, die Reederin, gesagt, und wegen seines gewinnenden Lächelns. Bei ihr war er sich nie sicher, ob sie scherzte oder nicht. Ihr Charakter war hässlich wie eine Kröte. Beispielsweise hatte sie bestimmt, dass Giuseppe nach der Übergabe der Fracht dafür verantwortlich wäre, die Schwimmwesten einzusammeln, bevor er die Laderäume mit dem Schlauch ausspritzte, seit sie wusste, dass er sich alleine unter Deck fürchtete. Zu seinem ängstlichen Protest hatte sie gelacht. Er sei eben das jüngste Crewmitglied, und jetzt solle er gefälligst tun, was sie ihm gesagt habe!
Etwas polterte an Deck. G gleich darauf brüllte jemand auf. Hier unten konnte Giuseppe die Wörter nicht verstehen. Wahrscheinlich waren Ahmed und der Kapitän sich in die Haare geraten. Der Streit endete abrupt. Nur das Radio auf der Brücke beschallte alle weiter mit den goldenen Hits der Sechziger.
Auf der letzten Tour hatten sie nur drei Frauen und sieben Kinder an Bord genommen. Als die Charybdis abdrehte, trug der Wind ihnen die Protestschreie der zurückgelassenen Männer in dem lecken Schlauchboot hinterher. Die Kinder waren zu erschöpft, um zu weinen, und die Frauen leisteten wenig Gegenwehr. Sie tranken das Wasser, legten die Rettungswesten ab und wickelten sich dankbar in die Wolldecken, die er ihnen brachte. Bald danach schliefen sie ein, denn die Crew hatte ihnen Beruhigungstabletten ins Wasser gemischt. Bis zur Übergabe würden sie keinen Ärger machen. Nur einmal hatte eine sich geweigert, zu trinken. Sie hatte um sich geschlagen, geschrien und gekratzt, als die Charybdis das Boot mit den Männern zwischen den Wellen zurückließ. Schließlich hatte der Kapitän genug gehabt und sie über Bord werfen lassen. Ihr Körper war zweimal gegen den Schiffsrumpf geprallt, ehe er unter dem im Meer treibenden Algenteppich verschwand. Es hatte geklungen, als werde eine riesige Glocke geschlagen. Das dumpfe Geräusch hatte Giuseppe tagelang bis in seine Träume verfolgt.
Wieder pochte es. Die Charybdis schien zu vibrieren. Giuseppe drehte den Kopf nach links und rechts, um die Anspannung zu vertreiben. Mit einer alten Leine band er die Rettungswesten zusammen. Dann steckte er sie in einen großen Sack.
Das Licht über seinem Kopf flackerte.
Wenn er doch nur endlich in seiner Koje läge! Und wenn doch schon morgen wäre! Solange die Charybdis im Dock lag, hätte er Landgang – Zeit, seine Familie zu besuchen. Er hatte seinem Neffen versprochen, mit ihm gemeinsam ein neues Bilderbuch auszusuchen. Natürlich müsste er erst mit seinem Roller die vierzig Kilometer ins Land fahren, und –
TONG!
Täuschte er sich, oder kam das Geräusch näher? Machten die anderen sich einen Spaß mit ihm? Na wartet, denen würde er es zeigen! Giuseppe schlich zur offenen Tür, horchte einen Moment. Dann sprang er hinaus in den Gang. „Hab ich euch erwischt!“
Aber der Flur war leer.
Verwirrt schob er den mit Zement gefüllten Eimer beiseite, der als Türstopper diente. Er stieg vorsichtig über die erhöhte Schwelle. Drei weitere Frachträume zweigten vom Mittelgang ab. Jeder war von außen verriegelt. Giuseppe wusste, dass es auf der anderen Seite keine Möglichkeiten gab, die Türen zu öffnen – er hatte die Hebel selbst abmontiert. Er schaute trotzdem nach. Die Räume waren leer. Hier unten konnte sich niemand verstecken. Es sei denn …
Natürlich. Entlang der Rohre wanderten die Geräusche leicht durch das ganze Schiff. Wahrscheinlich saß Ahmed im Maschinenraum, mit der Thermoskanne, in der er seinen Spezialtee aufbewahrte, und machte sich einen Spaß daraus, mit dem Mutternschlüssel gegen die Leitungen zu klopfen. Der hatte immer solche dämlichen Scherze parat. Was für ein Idiot!
Giuseppe kehrte in den ersten Frachtraum zurück und griff sich den Sack mit den Rettungswesten. Er ließ das Licht brennen und machte sich auf den Weg zur Leiter.
Die Charybdis war ein alter Kahn, fast schon schrottreif. Mit der Elektrizität stand es nicht zum Besten. Er würde Amalia bitten, dass sie ihre Leute auch da einen Blick drauf werfen ließe. Nicht, dass er Angst im Dunkeln hatte, aber sie wollten doch nicht riskieren, dass es zu einem Kurzschluss oder gar einem Brand käme!
Unter seinen Fingern blätterten Farbe und Rost ab, als er seine Hand auf die Leiter legte. Er kletterte die wenigen Sprossen hinauf und rüttelte an der Luke. Sie schien blockiert. Egal, wie sehr er drückte, sie hob sich nur um wenige Millimeter, bevor sie ihm wieder entgegensackte.
Irgendwo dröhnte ein Schlag gegen Metall. Das Schiff schlingerte.
Nach drei Versuchen war Giuseppe sich sicher – diese Arschlöcher hatten ihn eingesperrt! Er sprang von der Leiter und warf der Luke einen letzten hasserfüllten Blick zu, ehe er zum anderen Ende des Ganges joggte. Dort gab es eine kleine Nottür, die zum Maschinenraum führte. Sie sollte stets verschlossen bleiben, wegen Brandgefahr, und war gerade hoch genug, dass ein schlanker Mensch sich hindurchzwängen konnte. Wenn er erst auf der anderen Seite wäre, würde Ahmed etwas zu hören bekommen!
Ein weiterer Schlag auf Metall. Flackerndes Licht.
Giuseppes Herzschlag beschleunigte. Er bemühte sich, ruhig zu atmen. Wenn die Lampen für einen Moment erloschen, schienen die Schatten in seine Richtung zu kriechen. Etwas knarrte hinter ihm. Wurde die Luke von oben geöffnet? Im Laufen sah er über die Schulter zurück. In genau diesem Moment tauchte die Charybdis in ein Wellental. Der Schiffsboden sackte unter ihm weg. Er schlug der Länge nach hin. Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen. Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Unter seinen Fingern knisterten feine Kristalle. Obwohl sie ständig putzten, blieb das ganze Schiff mit einer gräulichen Salzkruste bedeckt.
Der Gang lag in beide Richtungen leer und verlassen. Die Luke bewegte sich nicht. Direkt unter der Leiter schwang die Tür zum ersten Frachtraum quietschend in den Angeln.
Dort hatte sich dieser Bastard also versteckt. Giuseppe schluckte, holte tief Luft und machte einen Schritt Richtung Leiter.
Dann wollten seine Beine ihm nicht mehr gehorchen.
Es stank nach verrottenden Algen.
Irgendwo schlug erneut jemand – oder etwas – gegen Metall.
Vergessen war die Schockstarre. Giuseppe fühlte einen kalten Hauch im Nacken und hechtete durch die Tür des Frachtraums. Sein linker Fuß verhakte sich an der Türschwelle, und er landete erneut auf dem Boden. Diesmal schlug er mit dem Kinn auf, schmeckte Blut. Er hatte sich auf die Lippe gebissen. Schmerz schoss durch seinen Unterkiefer. Stöhnend stemmte er sich in die Höhe und sah sich um.
Die Lampe summte, knisterte. Es gab einen leisen Knall. Ein letztes Flackern .Dann Dunkelheit.
Giuseppe quietschte, schlug sich beide Hände vor den Mund. Es brannte, als Salzkrusten in seine aufgeplatzte Lippe gelangten. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an den schwachen Schein der Notbeleuchtung. Der Algengestank wurde immer schlimmer.
Da war es wieder, das musste Ahmed sein, der auf das Heizungsrohr eindrosch, Guiseppe war sich ganz sicher! Giuseppe überwand seine Angst, machte einen Satz vor und drückte die schwere Tür ins Schloss. Das Echo hallte in seinen Ohren wider.
Schwer atmend wich Giuseppe zurück, bis sein Rücken die Außenwand des Frachtraums berührte. Direkt hinter ihm rauschte das Meer vorbei. Er konnte es leise flüstern hören. Die Charybdis hatte Fahrt aufgenommen. Ansonsten war es still – keine Musik mehr aus der Brücke, die sich direkt über ihm befinden musste, keine Gesprächsfetzen. Keine Schritte. Das Schiff war totenstill – wie ausgestorben.
Ein harter Schlag ließ die Tür vibrieren. Es klang, als werfe sich jemand mit seinem ganzen Körpergewicht gegen das Metall.
Giuseppes Herz raste, als wolle es explodieren. Er spürte seine Finger nicht mehr.
Noch ein Schlag.
Als die Tür sich öffnete, schrie Giuseppe. Er wünschte sich, er hätte diesen verfluchten Job niemals angenommen. Feuchte Wärme breitete sich in seinem Schritt aus.
Er schrie nicht lange.
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Das Kleingedruckte: Solche Gedanken kommen einem, wenn man sich mit Freunden einen Vortrag der Organisation Jugend Rettet e.V. anhört. Wusstet ihr, dass Flüchtlingsschlepper den Schlauchbooten die (lebensnotwendigen) Motoren abmontieren, sobald die Boote internationales Gewässer erreicht haben?
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