
Foto von Simon Matzinger, gefunden auf Unsplash.
„Gute Nacht, Marie. Schlaf gut.“
Papas Gestalt verschwindet aus der Türöffnung. Der Spalt schließt sich. Die Geräusche aus dem Wohnzimmer werden leiser.
In deinem Zimmer ist es dunkel. Der Teppich bildet eine bodenlose Pfütze rund um dein Bett. Die Decke ist weich und warm und gerade so schwer, dass du dich gut unter ihr einkuscheln kannst. Am Fußende schnurrt Bartimäus der Kater, den die Erwachsenen nicht sehen können. Er klingt wie ein kleiner Motor, der dein Bett durch die Nacht surren lässt. Vor dem Fenster halten die Straßenlaternen Wacht. Ein Baum streckt seine Schattenfinger durch dein Fenster. Er zerrt einen Augenblick lang an deinen Vorhängen, und dann hebt er dich mitsamt Bett in die Höhe – so sanft, dass du es kaum spürst. Bartimäus‘ Schnurren wird lauter. Dein Bett vibriert ganz leicht. Gemeinsam schwebt ihr durch das Fenster, an Baum und Straßenlaterne hinaus und die Straße hinunter, wo die Traumschatten auf euch warten. Sie sind groß und klein, eckig und rund. Einige leuchten wie Glühwürmchen. Von anderen sieht man nur die Augen. Du winkst ihnen zum Gruß, und sie winken zurück.
Das Bett hält an und schwebt in der Luft. Du guckst dich um.
Der kleinste Traumschatten ist verschwunden. Sonst kommt er immer zur Begrüßung bis ganz dicht an dein Bett. Er ist sehr schüchtern und spricht noch nicht.
Die anderen Traumschatten führen einen komplizierten Tanz auf. Ihre Arme, Beine und Flügel weisen alle in die gleiche Richtung. Dorthin, wo der Himmel am dunkelsten ist.
Über euch zwinkern die Sterne. Das Bett macht einen gewaltigen Satz. Auf einmal sind die Dächer der Stadt weit unter euch, und dein Herz kribbelt ein bisschen vor Aufregung. Bartimäus kommt auf lautlosen Katzenpfoten vom Bettende heraufgetigert und reibt seinen dicken schwarzen Katzenkopf an deiner Wange. Seine gelben Augen leuchten in der Dunkelheit. „Wohin fliegen wir heute Nacht?“
Seine Worte sind auch nur ein Schnurren. Trotzdem verstehst du ihn. Die Nacht ist kalt, also streckst du nur deinen Arm unter der Bettdecke hervor und zeigst Richtung Osten. „Wir suchen den kleinsten Traumschatten.“
„Wie du befiehlst.“ Bartimäus war einmal ein Hexenkater, und manchmal bemerkt man das noch. Zum Beispiel, wenn er redet. Wie die Figuren aus den alten Märchenfilmen, mit den ausgebleichten Farben. Oma hat sie dich manchmal sehen lassen, wenn ihr zu Weihnachten zu Besuch wart. Dann gab es Kakao und frische Plätzchen, und niemand hat etwas gesagt, auch wenn du ganz dicht vor den Fernseher gerutscht bist.
Dieses Jahr wart ihr zum ersten Mal nicht bei Oma, und Mama hat über die Feiertage viel geweint. Damals hast du den kleinen Traumschatten zum ersten Mal gesehen.
Hoch über dem fliegenden Bett siehst du eine helle Gestalt, wie aus Wolken gemacht. Sie winkt dir zu und sieht dabei ein bisschen aus wie Oma. Ihr Arm zeigt Richtung Osten und wird dabei immer länger, bis sie sich in einen Pfeil verwandelt und davonsegelt.
Ihr fliegt weit und schnell, über Flüsse und Berge, doch der kleinste Traumschatten ist nirgends zu sehen. Schließlich trefft ihr auf die aufgehende Sonne. Sie steht noch tief über einem Wasserfall, der nirgends anzukommen scheint. Das Bett wird langsamer und hält an, und Bartimäus sitzt mit um die Pfoten gekringeltem Schwanz neben dir. Er ist sehr zufrieden mit sich selbst. Früher hat er nur Besen fliegen lassen. Aber dein Bett ist auch aus Holz, das ist ganz einfach. „Siehst du ihn?“
Aufmerksam schaust du auf den Wasserfall hinunter. Tatsächlich, dort treibt der kleinste Traumschatten auf einem riesigen Seerosenblatt direkt auf den Wasserfall zu. Es braucht nur einen Gedanken von dir, und das Bett saust lautlos durch die Luft. Die Wasseroberfläche kommt rasend schnell näher. Der kleinste Traumschatten ist schon dicht an der Kante. Das Wasser schäumt und sprudelt. Er sieht ängstlich aus. Als er dich sieht, streckt er die Hände aus.
Du beugst dich weit aus dem Bett, greifst nach seinem Arm und ziehst ihn zu dir herauf. Ihr umarmt einander. Er riecht nach Zimt und Schokolade.
Bartimäus beobachtet euch neugierig.
„Ich möchte nach Hause.“ Obwohl du ganz leise redest, ist deine Stimme über dem Geräusch des Wasser laut und deutlich zu hören.
Das Rauschen begleitet euch noch lange, während ihr Richtung Westen fliegt. Der kleinste Traumschatten hat sich dicht an dich gekuschelt. Er ist schon wieder richtig warm geworden. Wie ein Teddybär passt er genau in deinen Arm. Du schließt die Augen und riechst an seinem weichen Haar.
Der Abendstern ist euer Ziel. Er tanzt auf einem Bein genau über deinem Haus und zwinkert dir schon von Weitem zu. Du bist fast zu Hause. Aber vorher musst du noch den kleinsten Traumschatten bei seiner Familie absetzen. Er wird nur langsam wach und reibt sich die Augen. Aber als er seine Familie erkennt, springt er aus dem Bett, ohne sich noch einmal nach dir umzusehen. Die Freude unten auf der Straße ist riesengroß.
Bartimäus klettert über dich hinweg und rollt sich wieder am Fußende ein. Stumm fliegt ihr zum Haus zurück, sinkt durch das Hausdach und die Zimmerdecke zurück in dein Zimmer. Die Teppichpfütze trägt das Bett, als es durch die Decke sinkt. Die Luft ist angenehm warm. Du rollst dich noch ein bisschen mehr zusammen.
Vor dem Fenster tanzt der Baum mit den Traumschatten. Auch als du die Augen schließt, kannst du sie noch tanzen sehen. Sie winken dir zu.
Gute Nacht, Marie. Und vielen Dank.