Willkommen in Schattenfall

Die Idee zu der kleinen, magischen Stadt Schattenfall verfolgt mich auf die eine oder andere Weise schon seit Jahren. Jetzt habe ich es endlich geschafft, mich einmal vor Ort umzusehen, und es ist direkt gemütlich. Wenn man einmal von den unheimlichen Begebenheiten im Wald und den lokalen Fehden absieht … ^^

Senkrecht stehendes Buch mit Cover vorne, Schrift: "Willkommen in Schattenfall" auf einem herabhängenden Holzschild. Unter dem Holz sieht man die Silhouette eines ratlosen jungen Mannes und einer Gans neben einem Kürbis, der Funken sprühen lässt. Der Hintergrund ist in Blau- und Orangetönen gehalten, es wirkt gemütlich und magisch.
Willkommen in Schattenfall!

Das ist also Schattenfall. Was für ein Kaff! Nur schnell das gestohlene Portemonnaie abgeben, dann ist Thomas auch schon wieder weg – ein paar Tage bei seinem Vater unterkommen. In Berlin hat er nämlich Stress mit gefährlichen Leuten bekommen, und das nicht ganz unverschuldet.

Helga, die rechtmäßige Besitzerin des Portemonnaies, ist allerdings unauffindbar. Immerhin hat sie ihm zwei Überraschungen zurückgelassen: Den Schlüssel zu ihrem Haus – und Geronimo, einen besitzergreifenden Ganter mit Hang zum Größenwahn.

Auch die anderen Bewohner Schattenfalls haben ihn erwartet. Nicht alle sind jedoch glücklich, als er zu bleiben beschließt. Zwischen Kürbisfest und lokalen Fehden, Magie und Mythen verbirgt dieser pittoreske Ort ein düsteres Geheimnis. Und Wassermagier Thomas ist aus einem bestimmten Grund hergelockt worden: Er soll herausfinden, warum Leute in den Wäldern rund um Schattenfall verschwinden, und den Fluch brechen.

„Willkommen in Schattenfall“, den Auftakt der „Schattenfall“-Serie, gibt es in Kürze bei den üblichen Buchdealern. Bis dahin kannst du dir hier schon eine Leseprobe anschauen.

Diese verdammte Da Silva!
Thomas‘ Sneaker waren klatschnass. Sie hinterließen einen schlammigen Abdruck auf der rechteckigen Messingplakette, die in Kniehöhe in einen dekorativen Stein eingelassen war. Ein eingravierter Dreizeiler hieß Besucher in Schattenfall willkommen. Als ob sich jemals ein Mensch klaren Verstandes hierher verirren würde! Am liebsten hätte Thomas noch ein zweites Mal zugetreten, aber in genau diesem Moment schwankte ein hoch mit Blumen beladener Pickup um die Kurve. Er dröhnte so dicht an ihm vorbei, dass Thomas beiseite springen musste, um nicht komplett durchnässt zu werden.
„Arschloch!“, brüllte er dem Fahrer hinterher.
Schattenfall lag zwischen bewaldeten Bergen in ein Tal geschmiegt, das die Ausdehnung des Ortes auf natürliche Weise begrenzte. Dunstschwaden quollen aus dem Wald die Hänge hinab. Der Ortseingang befand sich etwas erhöht, und man erhielt einen guten ersten Eindruck. Dann musste man eine hölzerne Brücke überqueren, auf welcher der Pickup matschige Reifenspuren hinterlassen hatte. Sie war mit bunten Bändern geschmückt. Bei diesem Wetter hingen sie allerdings nur traurig herunter. Im Vorbeigehen riss Thomas an einem von ihnen, betrachtete angewidert das feuchte Kreppband in seiner Hand und ließ es auf die rutschigen Bretter fallen. Zurück blieb ausgewaschene blaue Farbe, die sich sofort in den feinen Linien seiner Handfläche absetzte.
Auf der anderen Seite des Flusses wand die Straße sich dem Ort entgegen, der dem Herbstregen mit bunten Farben trotzte. Die Häuser, die sich um den Marktplatz drängten, waren keinem Stil zuzuordnen. Einige wirkten, als seien sie im Laufe von Jahrhunderten mit der Landschaft verwachsen. Andere sahen nüchtern und zweckmäßig aus. Ein oder zwei größere Gebäudeklötze erhoben sich gewichtig über die anderen, und bei einigen … Gebäuden war Thomas sich nicht sicher, ob es sich nicht in Wahrheit um überdimensionierte Zelte oder Jurten handelte. In der Ferne blinkten bunte Lichter zwischen ausladenden Baumkronen.
„Und ich dachte, die Städter sind durchgeknallt“, murmelte er und ließ den Blick schweifen. Straßenschilder konnte er nicht entdecken. Wo lebte diese Helga Da Silva bloß? Die hatte ihm diesen ganzen Schlamassel schließlich eingebrockt! Und dann brauchte er ein Telefon und einen Abschleppdienst. Je schneller er von hier verschwinden konnte, desto besser. Sein Vater würde sich freuen, ihn für ein paar Tage zu sehen. Vielleicht konnte er ihm erzählen, er werde ein Praktikum in der Firma machen – in die faszinierende Welt der Gartenmöbel eintauchen. Der musste ja nicht wissen, dass er sich eigentlich nur verstecken wollte.
Obwohl es gar nicht so spät war – noch nicht einmal sieben – waren sämtliche Schaufenster dunkel. Niemand schien um diese Uhrzeit zahlende Kunden zu erwarten. Wovon lebten all diese Menschen bloß? Thomas passierte eine gigantische Marmornymphe, die sich aus einem Springbrunnen erhob, bog aufs Geratewohl in eine breite Straße ab und musterte die Hausfassaden. Wenn die Deppen hier auf Tourismus machten, musste es ein Hotel geben. Oder wenigstens eine Kneipe! Zu sehen war von solchen Etablissements allerdings nichts. Einen Supermarkt fand er, einen Schreibwarenladen und eine gelb verputzte Kirche, die sich beinahe schüchtern zwischen mächtigen Linden versteckte. Es gab eine Autowerkstatt, doch auch die war geschlossen. Regen rann über glänzende Scheiben und tropfte von einem altmodischen Aushängeschild aus Blech.
Thomas begann zu frieren.
In einer schmalen Seitenstraße fand er schließlich tatsächlich eine Art Gastwirtschaft. Das Ding hieß Zur kichernden Nymphe, hatte sonst aber wenig Ähnlichkeit mit einem Bordell. Die Fenster waren aus rautenförmig angeordnetem honigfarbenem Buntglas. Die Tür stand offen. Drinnen konnte er im Dämmerlicht einige Tische und einen abgelebten Tresen sehen. Es gab nur wenige Kunden. Dorfbevölkerung eben, kein Modebewusstsein, mit einförmigen Gesichtern und langweiligen Leben. Dennoch betrat Thomas den Laden. Was blieb ihm auch anderes übrig?
Seine Schuhe hinterließen schmutzige Abdrücke auf dem gefliesten Boden, als er auf den Typen hinter dem Tresen zuging.
„Keine Kartenzahlung“, knurrte dieser anstelle einer Begrüßung und musterte Thomas über die Gläser seiner randlosen Brille hinweg. So mussten Hipster aussehen, wenn sie in die Jahre kamen. Sogar der Manbun war da, mit grauen Strähnen durchzogen.
Natürlich hatte Thomas kein Bargeld dabei. „Wo ist der nächste Geldautomat?“, fragte er und bemühte sich um Freundlichkeit in der Stimme.
„In der Kreisstadt.“
Fuck. Verfickter Dreck.
Thomas zwang sich zu lächeln. „Kann man eben nichts machen, hab ich Recht? Aber vielleicht kannst du mir helfen – ich suche das Haus von Helga Da Silva.“
Die Augenbrauen des Barkeepers wanderten in die Höhe.
Thomas spürte ein elektrisches Flirren, als flattere ein Schwarm Schmetterlinge über seine Aura.
Der Barkeeper murmelte etwas, das verdächtig nach nicht schon wieder klang, zog das Handtuch von der Schulter und wischte über den glänzenden Tresen. Thomas dachte schon, er würde keine Antwort mehr bekommen. Aber der Typ raffte sich doch noch auf. „Aus der Tür rechts, die Straße bis zum Ende entlang, dann zweimal links und immer weiter, bis du die Gans siehst. Bei den Wohnwagen bist du zu weit gegangen. Aber in der Straße kannst du an jede Haustür klopfen, die helfen dir bestimmt.“ Abrupt drehte er sich um, zapfte ein Bier und knallte das volle Glas auf ein rundes Tablett.
Thomas wartete noch einen Moment. Als nichts mehr kam, beschloss er, dass er wohl entlassen war. „Vielen Dank auch“, rief er im Hinausgehen.
Der Regen war stärker geworden, und der Himmel dunkler. Thomas beeilte sich, der Wegbeschreibung zu folgen, und erreichte nach wenigen Minuten ein malerisches Wohnviertel mit eindeutig älteren Häuschen, die zwischen dichten Büschen kauerten. Seine durchweichten Schuhe drückten und scheuerten. Wo war diese verdammte Gans? Und wie sollte er sich das überhaupt vorstellen?
Oh. Offenbar hatte der Typ eine echte Gans gemeint.
Sie stand mit hochgerecktem Hals auf einer überdachten Veranda und behielt die Straße im Auge.
Was für ein Kawensmann.
Thomas blieb an dem knapp hüfthohen Gartentor stehen. Er erinnerte sich dunkel an Warnungen vor Gänsen. War da nicht irgendwas im Lateinunterricht gewesen? Unschlüssig sah er die Straße entlang. In der Ferne sah er buntes Blinken zwischen schwarzen Ästen. Vielleicht waren dort die Wohnwagen, die der Kerl gemeint hatte.
Okay, auch wenn das eine stattliche Gans war, konnte Thomas ihr doch auf den Kopf spucken. Von der ging wohl keine größere Gefahr aus. Außerdem musste er dringend dieser Da Silva ihr Portemonnaie zurückgeben.
Wenn sie überhaupt zuhause war.
Alle Fenster waren dunkel.
Hoffentlich ging sie einfach früh schlafen.
Es gab keine Klingel am Gartentor, nur abblätternde Farbe. Thomas drückte die knarzende Klinke hinunter, den wachsamen Blick auf die Gans gerichtet.
Die watschelte die Verandastufen hinunter auf den kurz gehaltenen Rasen, die dunklen Knopfaugen auf den Eindringling gerichtet.
Ganz langsam, nur ja keine hastige Bewegung … Thomas hielt gesunden Abstand zu dem Vogel und näherte sich der Terrasse.
Plötzlich schrie die Gans. Es klang, als müsse sich eine Hupe übergeben. Sie schlug mit den Flügeln und ging zum Angriff über. Mit dem Schnabel hackte sie nach Thomas‘ Hosenbein.
Der sprang geistesgegenwärtig auf die Holzbank, die an der Wand stand.
Die Fenster des Hauses blieben dunkel.
Dafür ging nebenan das Licht an, und eine schmale Silhouette öffnete die Tür. „Geronimo, alles in Ordnung?“
Die Gans fauchte empört und schnappte nach Thomas‘ Schuh.
Er holte zum Tritt aus.
„Hey!“, rief die fremde Person, lief los und setzte mühelos über den Zaun zwischen den Grundstücken. „An deiner Stelle würde ich das nicht tun.“
„Dann soll die mich nicht angreifen!“ Misstrauisch behielt Thomas den Vogel im Auge. Die Ankunft der Fremden hatte ihn für den Moment abgelenkt. Sein weißer Bürzel wackelte aufgeregt hin und her.
Beim Näherkommen entpuppte die fremde Person sich als schwarzgekleidete Frau unbestimmten Alters mit langen straßenköterblonden Haaren, die in einem unordentlichen Pferdeschwanz einigermaßen gebändigt waren. „Der bewacht nur das Haus, solange Helga nicht da ist.“ Sie ging in die Hocke und strich mit einer langfingrigen Hand über den Hals des empörten Vogels. Das schien ihn tatsächlich zu beruhigen.
Thomas blieb dennoch auf der Hut. „Wann kommt sie wieder?“, fragte er aus luftiger Höhe.
Die Frau sah ihn nicht an. „Keine Ahnung.“
„Mist.“