Manchmal wundere ich mich über Menschen.
Seit einiger Zeit geistert ein Text im Internet herum. Ich verlink den nicht – warum, wird gleich hoffentlich klar – aber in Kurz erzählt jemand aus der Ich-Perspektive, wie er*sie vor einem Café saß und beobachtete, wie einige junge Leute zu einem Obdachlosen gemein waren. Dann ging die Person in den nächsten Laden und kaufte Lebensmittel, Socken etc. für den Obdachlosen. Der wollte die Sachspende erst nicht geschenkt nehmen, sondern mit den Spenden des Tages (Centbetrag) bezahlen. Der Text ist garniert mit Ausdrücken echter Empörung und Betroffenheit. Am Ende folgt ein Aufruf, wir sollten doch alle bessere Menschen sein.
Dieser Text wurde mindestens seit Anfang des Jahres im exakten Wortlaut von etlichen Profilen, die nicht zur gleichen Person gehören, kopiert. Ohne Quellenangabe, ohne zeitliche Einordnung. Es klingt immer so, als habe die postende Person das Beschriebene „gestern“ erlebt. Natürlich frage ich mich: Warum tut jemand so etwas? Klar, da soll Aufmerksamkeit generiert werden. Mehr dazu gleich.
Eine Bekannte bei Facebook teilte gestern den nämlichen Text, den ein weiteres Profil kopiert hatte. Das ist erst einmal nicht verwerflich, denn es ist wichtig, auf soziale Missstände wie Obdachlosigkeit aufmerksam zu machen. Als ich sie allerdings darauf aufmerksam machte, dass das Beschriebene nicht authentisch sei, geschah etwas merkwürdiges. Sie war sauer auf _mich_, weil ich nicht betroffen ob der Obdachlosigkeit und der Gemeinheit der jungen Leute war, sondern mich darüber empörte, dass von er postenden Person gelogen wurde. Es sei doch gut, wenn jemand über ernste Themen schreibe, und letztendlich zähle das Gefühl und nicht, ob das da echt sei oder nicht.
Äh, nein.
Zugegeben, ich verbringe einen großen Teil der Zeit damit, mir Geschichten auszudenken und sie Leuten unterzujubeln. Allerdings deute ich niemals auch nur an, dass irgendwas von dem, was ich schreibe, wahr und so tatsächlich gerade eben erst passiert sei.
Was macht dieser Text denn? Wird damit tatsächlich etwas gegen Obdachlosigkeit getan? Werden praktikable Lösungen für ein ernstes Problem aufgezeigt? Oder geht es vielmehr darum, dass die postende Person so tut(!), als habe sie etwas total Selbstloses für jemanden getan, zu dem alle anderen echt voll gemein waren? Ich meine – klar, mit so einem Post kannst du eine Menge Aufmerksamkeit online generieren. Jede Menge Menschen werden dir zustimmen, dich loben, über die gemeinen anderen Leute schimpfen, Obdachlose bedauern und den Quark eben weiter teilen, weil der Text Gefühle in ihnen auslöst.
Wem so ein Text nichts bringt? Logo, den Obdachlosen.
Und ich rede noch nicht einmal davon, wie herablassend es ist, für eine vollkommen fremde erwachsene Person einen Großeinkauf zu tätigen, was da ja angeblich passiert ist. Das ist sowieso so ein Pet Peeve von mir – Leute, die Obdachlosen und anderweitig bittenden Personen aus Prinzip nur Sachspenden geben, weil „sonst versaufen die das ja eh nur“. Bevorzugt gesagt von Leuten, die gerade auf dem Weg in die Kneipe sind, denn wenn du einen festen Wohnsitz hast, darfst du natürlich Nervengifte konsumieren, soviel du magst. Nur bei den Leuten, die wir als sozial schwächer aufgestellt wahrnehmen, ist das ein Problem. Genau wie bei rauchenden Arbeitsuchenden, da wird auch immer der mahnende Zeigefinger erhoben. Es scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein, andere Leute zu belehren und zu verurteilen.
(Disclaimer: Ja, ich bin judgemental as fuck. Würde nie etwas anderes sagen. Es ist eine meiner besseren Eigenschaften.)
Und warum teilen Leute so etwas? Warum sind sie empört, wenn solche Texte kritisiert werden? Ich vermute, dass diese Texte ihnen ein diffus gutes Gefühl verpassen. Sie lesen, wie jemand (angeblich!) etwas Gutes getan hat, und dann fühlt das Gehirn sich ganz warm und flauschig an. Sie stellen sich vor, dass sie natürlich ähnlich handeln würden, also macht sie das zu besseren Menschen. Das Gehirn unterscheidet nicht notwendigerweise zwischen dem, was wir lesen/hören/sehen und dem, was wir tatsächlich tun.
Einmal mehr: Wem hilft das nicht? Obdachlosen Personen.
Während man sich also total solidarisch und selbstlos fühlt, ist man eigentlich nur auf die eigenen Bedürfnisse konzentriert.
Und wo wir gerade dabei sind – was kann man Obdachlosen denn nun wirklich Gutes tun?
Zuerst einmal sage ich natürlich NICHT, dass du mit den persönlichen Spenden aufhören sollst. Aber Spenden sind eine temporäre Lösung für ein chronisches Problem. Das gilt auch für Spenden an ehrenamtliche Organisationen, die sich um die Bedürfnisse Obdachloser kümmern. Bitte dennoch weitermachen! Schau, ob du dich irgendwo ehrenamtlich engagieren kannst (Bahnhofsmission o. ä.), wenn du die Kapazität hast. Und vor allem: Engagier dich auf politischer Ebene. Obdachlosigkeit ist nämlich nicht gottgegeben, sondern ein Ergebnis dessen, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Inzwischen gibt es gute Studien dazu, dass man Obdachlosigkeit viel effizienter (und günstiger!) bekämpfen kann, indem man den obdachlosen Personen Zugang zu einem festen Wohnsitz und einem eigenen Bankkonto verschafft und sie dabei betreut, sich wieder ein geregeltes Leben aufzubauen.
Natürlich eine kleine Sob Story zum Schluss: Als ich noch Studentin war, saß an der Uni immer ein Obdachloser und bettelte. Ich hatte nicht viel (Bafög plus Kindergeld), aber wenn ich etwas übrig hatte, gab ich ihm. Außerdem haben wir uns ab und zu unterhalten, wenn ich zwischen Kursen etwas Zeit hatte. Er hatte angefangen, zu viel zu trinken, nachdem seine Frau gestorben war, hatte Job und Wohnung verloren und musste nun gucken, wie er irgendwie durchkam. Irgendwann saß er nicht mehr an seinem üblichen Fleck. Aber einige Jahre später sah ich ihn zufällig auf dem Weg ins Büro im Bus – und in wirklich präsentablem Zustand. Er hatte es tatsächlich geschafft, wieder Fuß zu fassen, und war selbst auf dem Weg zur Arbeit. Damit hatte ich kein Stück zu tun, und ich weiß auch nicht, wie diese Wendung zustande gekommen ist (ich musste zwei Stationen später wieder aussteigen), aber ich war extrem erleichtert zu sehen, dass er nicht aus traurigen Gründen verschwunden war.
Jetzt können wir uns alle kurz gut fühlen, und dann machen wir bitte weiter damit, die Welt tatsächlich zu verbessern.
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